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Kontingenz und Zirkularität

Zufälligkeit, Mehrdeutigkeit, Unplanbarkeit

Kontingenz bedeutet Zufälligkeit, Nicht - Planbarkeit, Mehrdeutigkeit, Unkalkulierbarkeit.
In meiner Lebensgeschichte gibt es einige Marksteine, wo ich versuchte mit linearen Programmen Problemen Herr zu werden. Ich versuchte zum Beispiel meine Schüchternheit mit Programmen im Bereich des Positiven Denkens aufzubauen. Es musste scheitern. Leben ist niemals linear. Lernen auch nicht, weil Leben für mich Lernen ist. Da passt der Begriff Kontingenz sehr gut.

Die Unkalkulierbarkeit zeigt sich zum Beispiel beim sogenannten "Schmetterlingseffekt": Im Extremfall vermag bereits der Flügelschlag eines einzelnen Schmetterlings eine Kette positiver Rückkopplungen auszulösen, die schliesslich zur Ausbildung eines entfernten Sturmtiefs führen können (Paslack 1992).

Das bedeutet, dass im Leben, in der Schule, in der Erwachsenenbildung und überall davon ausgegangen werden kann, dass Auswirkungen auch von kleinsten Ursachen sehr gross und unkalkulierbar sein können.

Auch Sprache ist eindeutig kontingent. Ein Satz oder ein Wort löst bei den Zuhörerinnen ganz verschiedene Assoziationen und Vorstellungen aus. So muss auch davon ausgegangen werden, dass alle Informationen, Impulse, ironische Bemerkungen, Vorschläge, Bilder usw. der Lehrenden kontingent sind. Die Wirkung dieser Vorgaben ist von den Stimmungen, Gefühlen, Erfahrungen und Erinnerungen der Lernenden abhängig und nicht vorhersehbar.

Selbsterfüllende Prophezeihungen

Bekannt für uns alle ist das Ursache – Wirkung – Denken. Das heisst also, wenn ich einen Fehler mache, werde ich dafür büssen müssen. Wenn ich mit dem Velo nicht aufpasse, fahre ich in die Mauer. Wenn ich in der Schule dem Lehrer nicht gehorche, bekomme ich schlechte Noten. Usw.Bei den sogenannten Selbsterfüllenden Prophezeihungen ist es umgekehrt: Die vorgestellte Wirkung erzeugt die konkrete Ursache. Wenn wir Angst haben vor den eintretenden Ereignissen eines Freitag, dem 13., wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese eintreten.

Hier haben wir es mit zirkulären Situationen zu tun.

Diese Zirkularität zeigt sich auch beim Umgang mit Erfahrungen: Neue Erfahrungen werden mit den alten verglichen. Dabei werden diejenigen Verhalten, die als bewährt gelten, beibehalten, es werden jedoch auch neue Erfahrungen als bewährt und sinnvoll erkannt. Damit wird der Erfahrungsschatz ergänzt und teilweise neu geschrieben.

Dies geschieht auch mit Erkenntnissen, mit Wissen usw. Auch das Verhältnis zwischen Denken und Fühlen scheint zirkulär zu sein.

Der konstruktivistische Ansatz geht von wechselseitigen Koppelungen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns aus. Zwar "wissen" wir, was wir gehört und gesehen haben. Aber auch umgekehrt gilt: Wir sehen und hören, was wir wissen (Arnold, Siebert, 1997)

Konsequenzen für Lehrende

Für Lehrende gibt es Konsequenzen aus den vorausgegangenen Gedanken. Wenn Kontingenz und Zirkularität beim Lehren zutreffen, bekommen sie eine neue Aufgabe. Sie werden in dem Masse entlastet, wie die Selbstorganisation und die Selbstverantwortung der Lernenden aufgewertet werden.

Lehrende können unmöglich für all das, was sich beim Lernen abspielt die Verantwortung übernehmen. Es wird immer teilweise unplanbar, zufällig, mehrdeutig und zirkulär sein. Desgleichen werden sich die Lernenden ihrer eigenen Verantwortung stärker annehmen müssen, was wohl nicht einfach zu kommunizieren sein wird.


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Übersicht Konstruktivismus

Alle Themen von Konstruktivismus  
1 Evolution ist selbstorganisiert
2 Lernen durch Koevolution
3 Systemtheorie
4 Viabilität des Wissens
5 Kontingenz und Zirkularität
6 Gedächtnis und Erinnerung
7 Wissen
8 Perturbation - Krise - Reframing
9 Toleranz und Verantwortung
10 Lernchreoden und Driftzonen