1

Evolution ist selbstorganisiert

Evolution war und ist selbstorganisiert. Die an der Evolution beteiligten Systeme waren und sind selbstorganisiert, standen und stehen aber immer wieder auch miteinander in Beziehung.

Entwicklung des Lebens ist nicht primär Anpassung an Umweltbedingungen, sondern ein relativ eigenständiger, operational geschlossener, selbstreferenzieller Prozess (Treml, 1987).
Maturana und Varela erkennen die fundamentale Bedeutung der Sprache für die Selbstorganisation des menschlichen Bewusstseins. (Varela, Maturana, 1987).

Erkennen und Denken sind konstruierte Wirklichkeit und selbstorganisiert

F. Capra definiert lebende Systeme als selbstorganisiert. Das bedeutet, dass ihre Ordnung in Bezug auf Struktur und Funktion nicht von der Umwelt aufgezwungen, sondern vom System hergestellt wird (Capra, 1988).

Wie im ersten Zitat oben ersichtlich, sind Systeme, die am Prozess der Entwicklung des Lebens beteiligt sind, operational geschlossen.

Das Nervensystem, das für das Erkennen und Denken zuständig ist, wird als ein operational geschlossenes System gesehen. Damit wird nicht die äussere Welt abgebildet, sondern es wird eine eigene Wirklichkeit hervorgebracht. Die Wirklichkeit ist also ein Produkt unserer Erkenntnis und damit konstruiert.

Noch ein Zitat: Wir nehmen eine Welt wahr, nicht wie sie ist, sondern wie sie uns erscheint. Gewiss ist lediglich die Tatsache, dass wir erkennen und dass diese Erkenntnisse uns Orientierungen und "erfolgreiche" Handlungen ermöglichen. Auch unsere "selektiven Wahrnehmungen" haben den praktischen Zweck, dass wir vor allem das registrieren, was uns im Moment wichtig erscheint und dass wir nicht durch die Fülle von Informationen völlig verwirrt werden (Maturana, Varela, 1987).

ch verstehe die Evolution als ein Zusammenwirken von verschiedenen selbstorganisierten Systemen. Dies war schon immer so und bekommt durch die Erkenntnisse des Konstruktivismus ein neues Gewicht. Wir können lernen mit diesem Wissen umzugehen und es in der Erziehung zu gebrauchen (siehe weiter unten).

Verwebung von innen und aussen: Kommunikation ist wichtig

Die Entwicklung eines Systems geschieht trotz Selbstorganisation nicht in hermetisch abgeschlossener Weise. Das Innen und das Aussen sind in verschiedenen Mischungen immer wieder miteinander verwoben.
Im Bereich des menschlichen Bewusstseins und Lernens ist die Sprache von entscheidender Bedeutung. Nur über die Sprache kann der Versuch gemacht werden, sich mitzuteilen, nachzudenken über die eigenen und über fremde Aussagen. Die Sprache kann dazu dienen, die eigene Wirklichkeit zu überprüfen, neu zu definieren, andere Wirklichkeiten wahrzunehmen (soweit dies überhaupt möglich ist).

Für die zwischenmenschliche Interaktion ist die Sprache wesentlich und charakteristisch. (...) Durch Sprache teilen wir Beschreibungen und Beobachtungen mit, aber wir können auf einer Metaebene auch über die Beobachtung der Beobachtung sprechen, wir können uns über die Gültigkeit der Beobachtungen verständigen (Capra, 1988).

Für mich müssten neben der Sprache die weiteren Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Wesens in diese Überlegungen miteinbezogen werden. Kommunikation geschieht nicht nur auf sprachlicher Ebene und kann auf anderen Ebenen genauso aussagekräftig sein (Musik, Bewegung, Malerei, ...).

Konsequenzen für die Erziehung

Wenn davon ausgegangen wird, dass die Menschen, die an der Evolution beteiligt sind, selbstorganisiert sind, bzw. selbstorganisierte Systeme in sich tragen. Wenn weiter die Wichtigkeit der Sprache, bzw. die Kommunikation, geklärt ist, hat das Konsequenzen für die Erziehung (was bis weit ins Erwachsenenalter hineingehen kann!).
Der "Erziehung" ist dabei in der Moderne erstmalig auch eine "Variationsfunktion" zugewachsen, sie erhält Gelegenheit, die jeweiligen Anfangsbedingungen evolutionärer Prozesse (mit) zu gestalten (Treml, 1987).
Für mich gilt es, in der Erziehung (ist es das richtige Wort?) an folgende Dinge zu denken:
--> Ich akzeptiere die operationale Geschlossenheit des Denk- und Erkenntnissystems der Menschen. Jeder Mensch hat seine eigene Wirklichkeit. Ich kann lediglich Impulse vermitteln.
--> Die Kommunikation, wohl vorerst einmal in erster Linie die Sprache, hat eine zentrale Bedeutung. Das Sich - Mitteilen, das Nachdenken über sich selber und über andere bekommen ein noch grösseres Gewicht.
--> Durch Impulse, die ich kommunikativ gebe, findet eine Verwebung mit den selbstorganisierten Systemen der Menschen statt. Damit bin ich an der Evolution mitbeteiligt. Es kann wesentlich sein, welche Impulse von mir aus gehen.

Schwindelgefühle, Liebe, Toleranz

Trotz aller Wissenschaftlichkeit der konstruktivistischen Texte tauchen wichtige Gefühle auf:

Maturana und Varela kennen das Schwindelgefühl, das daher rührt, dass wir keinen festen Bezugspunkt mehr haben, an dem wir unsere Beschreibungen verankern und nicht den Bezug auf den wir ihre Gültigkeit behaupten und verteidigen können (Maturana, Varela, 1987).

Wir können unsere "blinden Flecken" nicht beseitigen, aber wir können uns unserer blinden Flecken bewusst werden (Maturana, Varela, 1987).

Aufgeschlossenheit gegenüber Andersdenkenden, wachsame Toleranz könnte ein Ergebnis dieser Erkenntnistheorie sein. Wir können nur überleben, wenn mir mit anderen zusammenleben, die andere Wahrnehmungen und Ansichten haben als wir.
Maturana und Varela sprechen gar von Liebe: Ohne Liebe, ohne dass wir andere annehmen und neben uns leben lassen, gibt es keinen sozialen Prozess, keine Sozialisation und damit keine Menschlichkeit (1987).

zur nächsten Seite
zurück zum Anfang

Übersicht Konstruktivismus

Alle Themen von Konstruktivismus  
1 Evolution ist selbstorganisiert
2 Lernen durch Koevolution
3 Systemtheorie
4 Viabilität des Wissens
5 Kontingenz und Zirkularität
6 Gedächtnis und Erinnerung
7 Wissen
8 Perturbation - Krise - Reframing
9 Toleranz und Verantwortung
10 Lernchreoden und Driftzonen