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Lernen durch Koevolution

Lernen ist Erkenntnis

Für mich ist im Begriff Lernen so vieles "versteckt", dass ich denke, dass immer wieder geklärt werden muss, welches Lernen jeweils gemeint ist. Wörterlernen für eine Sprache oder der Aufbau des Einmaleinswissens sind Lernen. Sie unterscheiden sich jedoch klar vom Lernen, welches ganzheitlich und im Sinne von lebensbestimmend gemeint ist. Im Folgenden geht es um diese zweite Art des Lernens.

Lernen in diesem Sinn hat die Aufgabe, das eigene Leben immer besser gestaltbar zu machen. Lernen ist Erkenntnis.
Da im Konstruktivismus davon ausgegangen wird, dass das Lernsystem der Menschen selbstorganisiert und relativ abgeschlossen ist, liegt auch der Schluss nahe, dass unsere kognitiven Fähigkeiten mit unserer Lebensgeschichte verbunden sind.

Wenn wir also lernen hat das immer mit unserer Sozialisation, mit unserer Lerngeschichte, mit unseren Lebensverhältnissen, ja sogar mit unseren Zukunftsabsichten zu tun. Wir benötigen diese Erfahrungen und Absichten, damit wir uns eine Welt konstruieren können, in der wir erfolgreich handeln können. Lernen heisst also auch, die bereits erkannten "gelernten" Elemente so zu gebrauchen, dass wir unsere selbstgestellten Probleme lösen können.

Zum Lernen gehört
--> die Wirklichkeit, die in uns etwas bewirkt, die jedoch durch uns konstruiert ist,
--> das Erfinden von eigenen Welten, ja gar von uns selbst,
--> dass es keine Objektivität gibt,
--> dass wir immer wieder Eigenes gestalten (also nicht abbilden),
--> dass es nicht linear ist, sondern aus Wechselwirkung und Zirkularität besteht.

Konsequenzen für die Erwachsenenbildung

Neues Wissen wird angeeignet und in die eigenen Vorstellungen integriert, indem es an alte Erfahrungen angepasst, umgedeutet, zurückgewiesen oder gar als widerständig "aufbewahrt" wird. Damit ist die Bedeutung der verschiedenen Vorwissen und Erfahrungen der Lernenden geklärt.

Jede Lernende hat in diesem Sinne eine eigene Gewissheit. Damit ist auch notwendig zu anerkennen, dass die Gewissheiten der anderen als ebenso gültig, richtig und wichtig sind, wie die eigenen.

Lernen ist mit zunehmendem Alter immer weniger pädagogisch planbar, organisierbar, kontrollierbar (Arnold, Siebert, 1997).
Es war für uns unheimlich schwierig zu glauben, dass Menschen ohne unsere Deutungen ihre Probleme lösen können (Krapf, 1993).

Über die Konsequenzen für Gestaltung von Lehren meint von Glasersfeld 1987: (...), dass die Tätigkeit des Lehrers als ein Versuch angesehen werden sollte, die Umwelt eines Schülers so zu verändern, dass dieser möglichst jene kognitiven Strukturen aufbaut, die der Lehrer ihm vermitteln möchte.

Es gilt also Bedingungen zu schaffen, die für selbstorganisiertes Lernen der einzelnen Lernenden möglichst anregend und kreativ sein sollten. Dabei ist es wohl nicht möglich, im voraus zu wissen, was als anregend und kreativ erfahren werden wird.

Arnold/Siebert schreiben: Erwachsene - so scheint es - sind lernfähig, aber unbelehrbar. Ich frage mich, ob dies nicht auch auf Kinder zutrifft.

Das Prinzip der Selbstorganisation

Das Prinzip Selbstorganisation gilt für viele Systeme in der Natur und beim Menschen. Es ist damit gemeint, dass sich diese Systeme nach eigenen Regeln ohne Beeinflussung oder Eingriff von aussen organisieren. Sie organisieren sich so, dass sie die ihnen gestellten Aufgaben besser oder weniger gut lösen können. Sie entwickeln je ihre eigene Dynamik.

Auch Lerngruppen, wie Schulklassen oder Kursgruppen, sind selbstorganisierte Systeme mit eigener Dynamik. Insofern können Lernprozesse solcher Gruppen nur bedingt organisiert und gesteuert werden. Zu einer Lerngruppe gehören Lehrende und Lernende. Da beide Teil des Systems sind, können von beiden aus Impulse für Lernprozesse ausgehen. Lernen wird jedoch nicht linear organisiert werden können, es wird drauf ankommen, was für die Gruppe gerade wichtig sein wird und deshalb attraktiv wird.
Gruppen, die jedoch nur auf dieses Prinzip der Selbstorganisation abstützen, werden nur beschränkt gut funktionieren können. Es ist sinnvoll, den Lerngruppen spannungsreiche Ergänzungen und eine gewisse Limitierung durch Rahmenbedingungen und Fremdorganisation zukommen zu lassen.

Koevolution

Der Begriff Koevolution stammt aus der Psychologie. Ich habe ihn erstmals bei Jürg Willi gelesen, der ihn als Element von Zweierbeziehungen beschreibt. Für mich ist Koevolution die gemeinsame Weiterentwicklung einer Beziehung, wobei nicht immer direkt geklärt ist, was und wohin die Entwicklung geht. Es wird von einem ökologischen System gesprochen.

In selbstorganisierten Gruppen scheint der Begriff Koevolution auch von grosser Bedeutung. Die Menschen, die das System Lerngruppe bilden, tauschen untereinander Gefühle und Gedanken aus, sie regen sich an, sie bekommen Impulse voneinander. Damit entwickelt sich einerseits die Gruppe, andrerseits kann jedes einzelne Gruppenmitglied in seiner Entwicklung wachsen. Damit kann die Erfahrung erklärt werden, dass in "guten" Gruppen, das Ganze immer mehr als die Summe der einzelnen Gruppenmitglieder ist.
Manchmal geschehen auch Entwicklungen, die auf Anhieb gar nicht zur Gruppe gehörend beobachtet werden können. Oft geschieht auch "Unausgesprochenes". Es scheint, dass im ökologischen System Gruppe "Schwingungsfrequenzen" existieren, die mehr bewirken, als das explizit ausgedrückt wird.

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Übersicht Konstruktivismus

Alle Themen von Konstruktivismus  
1 Evolution ist selbstorganisiert
2 Lernen durch Koevolution
3 Systemtheorie
4 Viabilität des Wissens
5 Kontingenz und Zirkularität
6 Gedächtnis und Erinnerung
7 Wissen
8 Perturbation - Krise - Reframing
9 Toleranz und Verantwortung
10 Lernchreoden und Driftzonen