Bericht aus der Schule

Konflikte konstruktiv bewältigen

Von der Möglichkeit Konflikte mit Schulklassen auf effektive Weise anzugehen. Ein Bericht über die Anwendung des sogenannten narrativen Ansatzes in der Familientherapie im Schulalltag.
 
Ich war an meinen Grenzen angekommen. Jeden Tag immer wieder diese Streitereien. Unerklärlich für mich. Warum musste Peter Karin regelmässig einen Stoss in die Seite geben, wenn sie hinter ihm durchging? Warum hatte es einige grössere Buben darauf abgesehen, dem Bauernkind Kotfresser zu sagen? Warum nur verging keine grosse Pause ohne Schlägerei? Ich fühlte mich hilflos. Ich wusste nicht, was ich mit dieser Atmosphäre anfangen sollte. Am liebsten wäre ich davongelaufen.

Zum Glück fand ich dann aber dieses Buch von White und Epston "Die Zähmung der Monster". Die beiden Familientherapeuten schildern darin eine Methode, die mich sofort ansprach und bei der ich schnell wusste: Das könnte für mich, für meine Klasse, eine Lösung sein.

Das Buch beschreibt einen Ansatz in der Familientherapie. Für mich war jeodhc bald klar, dass eine Übertragung auf die Schule möglich sein würde und Sinn macht. Zudem war mir der ideologische Ansatz hinter der Methode nahe und überzeugte mich. Und es gelang tatsächlich. Ich möchte im folgenden den Verlauf dieser Konfliktbewältigungsmethode beschreiben und dann anschliessend noch etwas den theoretischen Hintergrund aus meiner Sicht aufzeigen.
Erster Schritt: Das Bedürfnis zur Problemlösung abklären
Probleme, an denen mehrere Menschen beteiligt sind, können nur mit dem Einverständnis der Beteiligten gelöst werden. In diesem Falle waren es meine 23 Kinder in drei Klassen (3., 4. und 5. Primar). Ich machte das mit einer einfachen Einpunktfrage: Ich finde "Gewalt" ist in unserer Abteilung für mich ein Problem.
Eine grosse Mehrheit war für "stimmt sehr", viele für "stimmt ein wenig" und nur zwei bei "stimmt eher nicht". Die SchülerInnen fanden mit mir zusammen, dass mit diesem Resultat etwas angefangen werden sollte. Sie erklärten sich bereit, sich einzulassen.
 
 Zweiter Schritt: Einen Namen finden
Hier ging es darum, dem Problem einen Namen zu geben. Auf das Plakat mit der Einpunktfrage notierte ich die Vorschläge: der Krieg, die Störung, der Hass, der Grösste, der Ärger, die Rache, die Unfairness, der Neid, das Nichtgernhaben, die Falschbeschuldigungen usw. Schliesslich meinte ein Kind: "Wenn wir jetzt einen dieser Namen auswählen, schliessen wir das andere aus. Aber das würde ja nicht stimmen!" Das schien uns richtig. So forderte ich die Kinder auf, für alle diese Namen nochmals einen Oberbegriff zu finden. Ein Junge, der gern bei Streitereien dabei war, fand schnell den Namen, den wir als zutreffend empfanden: die Versuchung.

Jetzt hatten wir etwas in den Händen. Es war "die Versuchung". Damit konnten wir weiterarbeiten. Allen war klar, was dieser Begriff bedeutete. Der ganze Prozess bis zur Namensfindung dauerte etwa eine halbe Stunde.
Dritter Schritt: Erste neue Geschichten finden
Nun kam der wohl anstrengendste Teil der Arbeit. Wir gingen auf die Suche nach Geschichten, in denen wir als Akteure stärker waren als die Versuchung. Geschichten aus der Schule, aus dem Elternhaus oder von sonstwoher. Geschichten zu erzählen, in denen Streit das Hauptthema ist, war einfach. Aber Geschichten zu finden, in denen es eben nicht zum Streit kam, obwohl ein Konflikt vorlag, das war wesentlich schwieriger.

Im Unterrichtsgespräch tauchten schliesslich doch einige Geschichten auf: Ich wollte den Bruder verhauen, hab mir dann aber überlegt, dass ich dann ja niemanden mehr zum Spielen hätte und da hab ich’s nicht getan. – Als ich gemein zu ihr sein wollte, kam mir plötzlich ein Ereignis in den Sinn, wo ich auf der andern Seite war. Das tat damals weh, also war ich dann doch nicht so gemein.Um weitere Geschichten zu finden, gab ich die Aufgabe innerhalb einer Woche müsse jedes Kind eine solche neue Geschichte für sich selber finden und zum Vorlesen aufschreiben. Es ging mir darum, viele solcher Geschichten zu bekommen. Mit diesen sollte dann weiter gearbeitet werden. Eine Woche später konnten die Geschichten einander vorgelesen werden.

Zwei Beispiele (gekürzt):
Wir haben Besuch. Meine Schwester nimmt ein Spielzeug von mir ohne mich zu fragen. Das stört mich und ich drohe, dass ich ihr etwas machen werde, wenn der Besuch weg ist. Als der Besuch weg war, fand ich es dumm mit der Schwester zu streiten. Ich fand es besser, mit ihr wieder spielen zu können. Ich sagte ihr, dass sie das nicht mehr tun soll und dann machten wir Frieden.

Bei uns hat es ein Gebüsch, wo es wie zwei Abteile hat. Petra und ich machen auf der rechten Seite eine Hütte, Kathrin und Laura auf der linken. Kaum sind wir fertig, beginnen wir einander zu necken: Wir haben die schönere Hütte. So kommt es zum Streit. Kathrin und Laura finden das aber blöd und suchen sich einen andern Ort zum Spielen. Später machen wir Frieden und haben es wieder lustig miteinander.
Vierter Schritt: Den Einfluss des Problems auf uns bestimmen
 
Das war relativ einfach. Dass "die Versuchung" immer wieder sehr stark war, das kannten die Kinder zur Genüge. So konnten sie ihre Ohnmacht in diesen Situationen formulieren. Sie konnten von ihren Stimmungen und Gefühlen berichten, wenn "die Versuchung" grosse Macht hatte. Vielen wurde klar, dass die Gefühle bei Streitereien für beide Teile gar nicht angenehm sind.
Fünfter Schritt: Unsere Macht über das Problem bestimmen
Schwieriger wurde es dann, die Momente zu beschreiben in denen der Macht "der Versuchung" getrotzt werden konnte. Es war eindrücklich, zu erleben, wie die Kinder sehr einfühlsam und durchaus kompetent diese Situationen beschrieben:

--> Wir spürten, dass der andere traurig ist.
--> Ich habe mich entschieden, ihm zu glauben (Da rede ich jeweils davon: Du hast den Schalter anders gestellt!).
--> Wir werden gezwungen (z.B. vom Lehrer), was jedoch nicht lange anhält.
--> Ich habe mich entschieden, dass die Sache für mich nicht so wichtig ist.
--> Ich erinnerte mich an schöne und spassige Zeiten.

Damit wurde den Kindern klar, dass mit diesen Ansätzen sehr viele angenehme Gefühle verbunden waren. Sie waren bereit, noch mehr dieser Geschichten zu finden, vielleicht auch zu er-finden.
 
Sechster Schritt: Weiter neue Geschichten er-finden
Von nun an war klar: Wenn irgendwo ein Problem, ein Streit auftauchte, wurde zum geflügelten Wort: Gell, die Versuchung ist wieder stärker. Oft war damit die Streitsituation schon wieder entschärft. Es ging aber nicht darum, diesen Spruch als Machtwort zu gebrauchen (also nicht im Sinne: Du weisst, dass du aufhören musst). Es durfte weitergestritten werden.

Es ging im weiteren darum, die Haltung zum Thema Versuchung zu festigen. Deshalb begannen wir die Wochengeschichten, die wir geschrieben hatten zu spielen. In frei gewählten Gruppen wurden die Geschichten nachgespielt. Bei jeder Geschichte versuchten die Kinder herauszufinden, wo der Moment war, wo es kippte. Wo waren die Erzählenden stärker als die Versuchung.

In einer nächsten Rollenspielrunde wurden neue Geschichten erfunden. Die Kinder überlegten sich, wann bei ihnen oft ein Streit entsteht und überlegten sich, was dazu führen könnte, dass er vermieden werden kann. Diese Geschichten spielten wir einander vor. Die ZuschauerInnen versuchten herauszufinden, wo die Macht der Akteure grösser war als diejenige der Versuchung. 
Regelmässiges Festigen der eigenen Macht
In der Folge nahm ich das Thema immer wieder auf. Manchmal machten wir dann eine "Ich bin mächtiger"-Zeichnung, wir erfanden weitere Geschichten, wir schrieben neue Geschichten, wir gestalteten etwas mit den verschiedenen Materialien (z. B. eine "Ich bin mächtiger – Skulptur"). Denkbar wäre auch, ein Lied zu erfinden. Beim Auftauchen anderer Probleme führten wir den ganzen beschriebenen Ablauf von Neuem wieder durch. 
Ich hatte wieder Befriedigung
Die beschriebene Methode hatte grosse Wirkung. Innerhalb von wenigen Tagen trat eine eindeutige Beruhigung ein. Heute habe ich das Gefühl, meine jetzigen SchülerInnen seien nicht anders als andere, die ich zuvor hatte. Im Gegenteil, sie gingen bewusster mit Streitsituationen um, was aber durch andere Massnahmen an unserer Schule noch verstärkt wurde (Schulrat, Peer-Mediation).

Ich begann auch, diesen Ansatz mit Gruppen und einzelnen Kindern mit Erfolg anzuwenden. In mir selber entstand ein viel lockerer Umgang mit Problemsituationen. Ich hatte ein wirkungsvolles Instrument gefunden.
(c) Hansueli Weber

Die Themen auf dieser Seite:

Externalisierung - eine kurze Übersicht Kurze Übersicht über das Buch von Epston und White "Die Externaliserung von Problemen"

aus dem Buch Von der "Zähmung der Monster" Oder "Die Externalisierung von Problemen". Gedanken zum narrativen Ansatz in der Familientherapie nach dem Buch "Die Zähmung der Monster" von Michael White und David Epst...

Bericht aus der Schule Ein Bericht aus dem Schulalltag, der zeigt, in welcher Form die Externaliserung daherkommen kann.